Seminar: Adorno: Erziehung zur Mündigkeit - Details

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Jürgen Habermas sprach 2011 in der Neuen Zürcher Zeitung über eine Kluft im Denken Adornos: „Aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive ist […] die Kluft zu beachten, die zwischen dem reformistischen, geradezu sozialdemokratischen Tenor des Volkspädagogen und dem rabenschwarzen Totalitätsdenken des Philosophen Adorno klaffte.“ Diese Polemik rechnet Adorno also gewissermaßen denkerische Inkonsistenz vor, indem sie auf offensichtliche Unterschiede im Ton zwischen Adornos systematisch philosophischen Schriften und seinen öffentlichkeitswirksamen Beiträgen fokussiert. Doch verkennt eine solche Polemik nicht gerade das zentrale Problem, dem Adorno in seinen öffentlichkeitswirksamen Reflexionen über Erziehung zur Mündigkeit begegnen musste: Die nahezu unüberwindliche Herausforderung, in einer postfaschistischen Gesellschaft überhaupt positiv über Erziehung zur Mündigkeit sprechen zu können? Zeigt Habermas' Polemik nicht ihrerseits auf ein mangelndes Problembewusstsein, wenn er Adornos Versuch, praktische Aufklärung in einer beschädigten Gesellschaft zu leisten, lieber als inkonsistent herabwürdigt, anstatt verständlich zu machen, dass Adorno schlicht nichts anderes übrig blieb? Die Problemlage scheint sich aus heutiger Sicht jedenfalls nicht eben gebessert zu haben. Auch heute dürfte es nicht zuletzt bezüglich offensichtlicher bildungspolitischer Missstände und mangelnder Bereitschaft, diese anzugehen, fast zynisch anmuten, über Erziehung zur Mündigkeit zu sprechen. Und trotzdem, möchte man mit Adorno entgegnen, ist es angebracht.
Im Seminar wollen wir Adornos Einspruch nachvollziehen. Wir werden ausgewählte Texte aus dem Sammelband „Erziehung zur Mündigkeit“ – eben jene Rundfunkbeiträge und Interviews, die Habermas abzutun scheint – gemeinsam lesen und diskutieren. Unter anderem beschäftigen wir uns mit dem von Adorno häufig thematisierten „autoritären Charakter“: Was genau ist darunter zu verstehen, wodurch entsteht er, und inwiefern könnte diese Kategorie noch heute relevant für die Analyse von Bildungsprozessen sein? Außerdem reflektieren wir das Spannungsverhältnis zwischen individueller Autonomiebildung und institutioneller Bevormundung, etwa in Schule und Universität. Nicht zuletzt diskutieren wir, welche Bedingungen nötig wären, um das zu verwirklichen, was Adorno in Anlehnung an Freud als „Ich-Stärkung“ bezeichnet: Wie können Bildungsinstitutionen angesichts drohender Indoktrinierung und medialer Überforderung heute zur Ich-Stärkung beitragen? Zum Ende des Seminars planen wir, einen Gast einzuladen, der in der gewerkschaftlich-politischen Erwachsenenbildung tätig ist und uns einen Einblick gibt, wie einengende Arbeitsbedingungen auf das Autonomiebedürfnis konkreter Arbeiter:innen wirken.