Kein anderes Verbot der abendländischen Kultur zieht so scharfe Grenzen wie das Kannibalismustabu: Wer Menschen isst, ist kein Mensch. Demgegenüber sind Anthropophagiemotive in der Literatur überraschend häufig, gerade auch in kanonischen Texten: z. B. der Odyssee, den Metamorphosen, dem Robinson Crusoe, der Penthesilea, dem Zauberberg. Die Vorlesung gibt einen Überblick über die typischen Ausprägungen des Anthropophagiemotivs und dessen Funktionen in der Literatur und der gesellschaftlichen Selbstverständigung: vom Spiel mit – erotisch-sexuellen oder politischen – Vereinigungssehnsüchten bis zur Problematisierung sprachlicher Verständigung (vermittelt über das gemeinsame Werkzeug des Mundes); von der Stigmatisierung des Fremden bis zur Versinnbildlichung eines ganz Anderen, das oft das versteckte Eigene ist. Damit stehen zugleich verschiedene Kultur-, Subjekt- und Literaturkonzepte zur Debatte. Besonderes Interesse gilt der auffälligen Prominenz des Kannibalismusmotivs in der Gegenwartskultur (Hannibal Lecter, Patrick Bateman u. a. Figuren).
Zur ersten Orientierung: Daniel Fulda: Kannibalismus. In: Bettina von Jagow und Florian Steger (Hrsg.): Literatur und Medizin im europäischen Kontext. Ein Lexikon. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, Sp. 480-485; als Materialsammlung: Christian W. Thomsen: Menschenfresser in Mythen, Kunst und fernen Ländern. Erftstadt: area 2006; zur Vertiefung: D. F., Walter Pape (Hrsg.): Das Andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg/Br.: Rombach 2001.