Die französische Moralistik ist keine 'Moral' im klassischen Sinne, sondern eine Form der erzählten Menschenkenntnis, die den Menschen in konkreten Situationen beobachtet und beschreibt. Dabei steht vor allem die gesellschaftliche Natur des Menschen im Zentrum des Interesses: Der Mensch erscheint den Moralisten nicht als abstraktes Wesen, sondern als Produkt konkreter zwischenmenschlicher Interaktionen und Kontexte. Auch wenn einige Moralisten wie z.B. La Rochefoucauld bisweilen versuchen, die versteckten Antriebe und Handlungsimpulse des Menschen zu ergründen, so erstrebt die 'Menschenkunde' der Moralisten doch niemals die Geschlossenheit eines philosophischen System, sondern bleibt von ihrem ganzen Ansatz her fragmentarisch und offen. Diese Offenheit schlägt sich auch formal nieder in der aphoristischen Schreibweise, die von den Moralisten vielfach verwendet wird, und die ihre Schriften zu einer gleichermaßen tiefgründigen und kurzweiligen Lektüre macht.
Das Seminar bietet eine Einführung in die Autoren Montaigne, Pascal, La Rochefoucauld und La Bruyère, sowie die von ihnen favorisierten Textarten 'Essais', 'Pensées', Maxime und (Charakter-)Porträt. Anhand repräsentativer Einzelanalysen soll die Vielschichtigkeit moralistischen Schreibens vermittelt und die Beziehung zwischen dem sich wandelnden Menschenbild des 16. bzw. 17. Jahrhunderts und den formalen Innovationen der Moralisten nachvollzogen werden.