Tierdichtung unterschiedlicher Diskurstraditionen war über Jahrhunderte einziges legitimes Sprachrohr für Kritik an gesellschaftlichen, politischen und insbesondere auch kirchlichen Verhältnissen. Hauptrepräsentant der mittelalterlichen Kirchen- resp. Ordenskritik im Gewand des Tierepos ist der nach dem gefräßigen Wolf Isegrim benannte 'Ysengrimus', der in lockerer Folge schwankhafte Episoden mit dem listigen Fuchs Reinard erzählt. Letzterer ist der eigentliche Protagonist des Werkes; er fungiert als Chiffre, seine Triumphe stehen für die Verführbarkeit der Welt, ihre Leichtgläubigkeit und ihr Verhaftetsein im Materiellen, was dem Rezipienten in immer neuen Konstellationen und Konstellationen vor Augen geführt wird. - In der Übung werden ausgewählte Szenen dieses Werkes gelesen und im Hinblick auf die Gesamtdeutung befragt. Das Proseminar stellt das mittelalterliche Tierepos in den Kontext der Nachwirkung der antiken Tierfabel (Phaedrus, Romulus, Avian), die in ihren hauptsächlichen Traditionslinien bis in die frühe Neuzeit nachgezeichnet werden soll.
Textkopien und Literatur werden in der ersten Sitzung bereitgestellt.