Seminar: Spezielle Themen der Soziologie (ST): "Soziologie der Sinne" - Details

Seminar: Spezielle Themen der Soziologie (ST): "Soziologie der Sinne" - Details

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Allgemeine Informationen

Veranstaltungsname Seminar: Spezielle Themen der Soziologie (ST): "Soziologie der Sinne"
Semester WiSe 2024/25
Aktuelle Anzahl der Teilnehmenden 54
erwartete Teilnehmendenanzahl 30
Heimat-Einrichtung Institut für Soziologie
Veranstaltungstyp Seminar in der Kategorie Offizielle Lehrveranstaltungen
Erster Termin Mittwoch, 23.10.2024 14:00 - 16:00, Ort: Seminarraum 7 (R.1.32) [EA 26-27]
Lehrsprache(n) Deutsch
SWS 2.3

Modulzuordnungen

Kommentar/Beschreibung

Das Seminar lädt dazu ein, sich einzulesen in das spannende und schnell expandierende Forschungsfeld der Soziologie der Sinne. Zu Beginn des Seminars beschäftigen wir uns kurz mit theoretischen Problemaufrissen und verschaffen uns einen groben Überblick zur Entwicklung des Feldes. Der Kern dieses Feldes liegt aber in der Produktion innovativer empirischer Zugänge zu sinnlichen Phänomenen, die bis vor kurzem noch kaum als Gegenstände kulturwissenschaftlicher Forschung angesehen wurden bzw. eher Psychologie und (Neuro-)Biologie überlassen wurden. Die Textauswahl ist darauf ausgerichtet, mit prägnanten Befunden und innovativer Methodik zu möglichst verschiedenen Phänomenen (Riechen, Tasten, Sehen, Hören) vertraut zu machen. Angelegt ist das Seminar als Literaturkurs. Aufgrund der Omnipräsenz des Phänomens in unserem Alltag laden die Texte aber auch zum Selberbeobachten und Weiterentwickeln ein. Dem Einbringen eigener kleiner Beobachtungen aus dem Alltag und entwickeln von Ideen für empirische Zugänge, räumen wir daher in den Diskussionen einen besonderen Platz ein (ein Forschungsprojekt als Hausarbeitsleistung wird allerdings nicht verlangt!). Besondere Kenntnisse etwaiger speziellen Soziologien sind nicht vorausgesetzt. Ideal ist eine Lust am Treiben von Soziologie, sowie eine Affinität für qualitative Methoden und kultursoziologische Zugänge. Die erste Sitzung findet am … statt. Wir beginnen dort mit der Besprechung eines ersten Textes und verteilen dann Referatsgruppen auf die restlichen Sitzungen.

Kurze Einführung: Was ist „Soziologie der Sinne“?

Wo auch immer sich etwas Soziales ereignet: Die Sinne sind beteiligt. Das "Atom" des Sozialen (Simmel), die Begegnung von Angesicht zu Angesicht ist das deutlichste Beispiel. Von solch einer "Face to Face"-Begegnung (Goffman) sprechen wir dann, wenn sich durch räumliche Nähe zwischen mindestens zwei Akteuren die Möglichkeit ergibt, einander anzusehen, anzusprechen, zuzuhören oder auch einander zu berühren. Aber auch die einsame Praxis – z.B. das Lesen einer Seminarbeschreibung am Computer – involviert sensorische Kapazitäten des Körpers. Sie sehen den Text mit ihren Augen, vielleicht hören Sie ihn auch mit einer inneren Stimme und dabei sind Sie unter anderem mit ihren Ohren in ihrer Umwelt situiert. Auch wenn Sie gerade nicht hinhören, verbindet sich ihr Körper laufend auditiv mit der Umwelt und Sie merken es spätestens dann, wenn ein lautes oder ungewöhnliches Geräusch Sie aufschrecken lässt.
Die Sinne, so könnte man sagen, sind als eine Art grundlegender Medialität zu verstehen, welche den menschlichen Körper mit dem Wechselwirkungsprozess des Sozialen verbindet. Andererseits sind die "Sinne" und "Sinnlichkeit" untrennbar vom sozialen Kontext, der sie hervorbringt. Das wird deutlich, wenn man die Fragerichtung umdreht. Während der obige Abschnitt fragt, was Sinne für die Konstitution des Sozialen leisten, kann man umgekehrt fragen, wie das Soziale sich "seine" Sinne mobilisiert, ausrichtet und diszipliniert. Kontexte und Praktiken mobilisieren, gewissermaßen je nach Bedarf, mal diesen und mal jenen Sinneskanal. Die Lesepraxis etwa – wie sie sich sozial besonders puristisch in Lesesälen inszeniert findet – ist geprägt von einer Art Reduktion auf das Visuelle, das Akustische verkommt im besten Fall zur Hintergrundstimmung (siehe easy Listening Playlists à la „Music to study to“ auf Youtube) und im schlimmsten Fall zur Ablenkungsquelle (weshalb man Ohropax-Spender in Bibliotheken vorfindet). Dadurch ergeben sich sozial kontrollierte Wahrnehmungsordnungen von Kontexten und Praktiken. In kirchlichen Gottesdiensten oder bei universitären Vorträgen sollte man leise sein und den Vortrag des Referenten sowie die Ruhe im Raum nicht durch Geräusche stören; Es ist nicht angebracht, das Gespräch von Fremden am Nebentisch im Restaurant allzu erkennbar zu belauschen, insbesondere wenn es intim scheint (was sich mitunter nicht nur am Inhalt, sondern auch der Tonlage erkennen lässt); Bei Gesprächen mit Bekannten sollte man durch Ausdruck von Interesse und Anteilnahme über das Gesicht visuell signalisieren und über bestimmte Mobilisierungen der Stimme zu ganz bestimmten Gelegenheiten mitreden. Den Schweißgeruch vom Sport hat man in der Kabine abzuduschen; Personen sind je nach Kombination von Kontext und Humankategorien unterschiedlich berührbar, sodass die Berührung des Körpers von A durch B eine unschuldige Geste darstellen kann, einen leicht "touchy" Zug haben könnte oder gar "übergriffig" wirkt; usw. Analoge Gedanken lassen sich auch für Medienpraktiken und andere artefaktzentrierte Tätigkeiten anstellen: Die Musikinstrumente, ihr System zur Klassifikation von Tönen und die tontechnischen Arrangements von Studios fördern die Entwicklung des "musikalischen Ohrs" seiner Benutzer*innen; Fotograf*innen und Kameraleute entwickeln bestimmte Techniken des Sehens (ist ein Gesicht, eine Szene, usw. "fotogen"?) die auf bestimmte Praktiken des Zeigens abzielen (über gedruckte Fotos oder abgespielte Filme); usw. Ganze kulturelle Strömungen beklagen eine "Entsinnlichung" des modernen Lebens und bemühen sich mit ästhetischen, therapeutischen, kulinarischen und anderen Praktiken um deren "Wiederversinnlichung" (Reckwitz 2015).

Die Sinne lassen sich daher mit ganz unterschiedlichen Mitteln als Gegenstand soziologischer Beobachtung erschließen.
- Als konstitutiven Bestandteil der „Interaktionsordnung“ (Goffman) kann man sie mit Mitteln teilnehmender Beobachtung beschreiben: Wie funktioniert das Berührungssystem auf dem Fußballfeld im Unterschied zum Berührungssystem im nicht-sportlich gerahmten Alltag? Wie funktioniert die lärmsensible Wahrnehmungsordnung etwa von Bibliothekslesesälen? Wie wird inneres Spüren in Settings der Atemtherapie als öffentlicher Gegenstand der Praxis und private Erlebensressource des Individuums hervorgebracht?
- Als Bestandteil des körperlichen Habitus werden die Sinne besonders mit Mitteln der Autoethnografie beobachtbar: Was für einen Wahrnehmungsstil hat eine blinde Person? Wie genau funktioniert die Entwicklung einer Profi-Nase in der Parfümerie-Ausbildung?
- Als variablen in kulturell und historisch formbaren Wahrnehmungsordnungen, kann man historische Archive auf ihre kulturelle Zurichtung und Bearbeitung hin untersuchen: Was hat es mit der setlsamen Obsession um Gerüche in der frühen Neuzeit auf sich? Wie hängt sie zusammen mit der Entwicklung der Medizin und der Hygienebewegung?
- Oder auch über kleine Laborversuche und Gruppendiskussionssettings untersuchen: Wie deuten Probanden Geruchsproben? Wie bewerten Diskussionsteilnehmer akustische Zeichen als Ausdruck nachbarschaflticher Beziehungen?

Problemaufrisse und Überblicke

… Der Klassiker: Sinne prägen Sozialität / Sozialität prägt Sinne

Simmel, Georg (2013[1908]): „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 2013

… Warum eigentlich „fünf“ (oder „sieben“) Sinne?

Loenhoff, Jens (1999): „Zur Genese des Modells der fünf Sinne“, Sociologia Internationalis 37-2, S. 221–244.

… Gegenwärtige Entwicklungen in den „Sensory Studies“

Eisewicht, P., Hitzler, R., & Schäfer, L. (2021). Horizonterweiterung oder neue Scheuklappen? Zum Sensorial Turn in den Sozialwissenschaften. Der soziale Sinn der Sinne: Die Rekonstruktion sensorischer Aspekte von Wissensbeständen, 3-17.

Saerberg, S. (2022). Sensorische Ethnographie. In Handbuch Soziologische Ethnographie (pp. 551-561). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Riechen

... Zur Geruchsrevolution der Neuzeit

Raab, Jürgen: Die „olfaktorische Revolution“ – Der Wandel in der Geruchswahrnehmung im 18. Und 19. Jahrhundert. / Die Zivilisationskurve des Geruchs In: Ders. „Soziologie des Geruchs.“ UVK-Verl.-Ges., 2001. (S.123-142; 142-155)

.... Autoethnografie des professionellen Riechens

Teil, G. (2019). Learning to smell: On the shifting modalities of experience. The Senses and Society, 14(3), 330-345.

…. Ein Laborversuch zur Frage: Wie machen wir Sinn aus dem Geruch von Parfüms?

Cerulo, K. A. (2018). Scents and sensibility: Olfaction, sense-making, and meaning attribution. American Sociological Review, 83(2), 361-389.

Berührung, Tasten und Spüren

…. Auf Fußballplätzen und in Umkleidekabinen: Wenn Männer Männer begrapschen dürfen

Müller, M. (2010). Wie bleibt der Mann ein Mann? Berührungssysteme im (Profi-) Fußball und die interaktive Neutralisierung körperlicher Intimität. Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation. Verhandlungen des, 34.

…. Wie man Berührungen mit der Videokamera analysiert: Multimodale Konversationsanalyse

Cekaite, A., & Goodwin, M. H. (2021). Touch and social interaction. Annual Review of Anthropology, 50, 203-218.

…. Wie geht in sich hinein spüren?

Antony (2023): (Inter-)Agieren an den Rändern des Kommunikativen: Die Interaktionsordnung der Atemarbeit. In: Antony, A. (2023). Leibliche Präsenz: Eine Soziologie holistischer Erfahrung (p. 253). Springer Nature. (157-186)

Sehen

…. Die Wahrnehmungsstile von Sehenden und Nicht-Sehenden beschrieben von einem blinden Ethnografen

Saerberg, S. (2015). Chewing accidents: A phenomenology of visible and invisible everyday accomplishments. Journal of Contemporary Ethnography, 44(5), 580-597.

Hören

…. Klang als Medium des Sozialen / Lärmsensibilität im Bibliothekslesesaal als Modus sozialer Ordnungsbildung unter Anwesenden

Maeder, C., & Brosziewski, A. (2011). Ethnosonographie: Ein neues Forschungsfeld für die Soziologie?. Die Entdeckung des Neuen: Qualitative Sozialforschung als Hermeneutische Wissenssoziologie, 153-170.

Weigelin, M. (2019): Die hellhörige Interaktionsordnung des Bibliothekslesesaals (unveröffentlichtes Manuskript)

…. Lärmsensibilität in der Nachbarschaft

Schwarz, O. (2015). The sound of stigmatization: Sonic habitus, sonic styles, and boundary work in an urban slum. American Journal of Sociology, 121(1), 205-242.