Europa wurde von der Ethnologie spät entdeckt. Zur Zeit ihrer Anfänge fühlte sich die Disziplin für die Erforschung ferner Länder und „fremder“ Kulturen zuständig; sie kam erst über die disziplinären Wenden und Kontroversen des 20. Jahrhunderts (etwa die Writing Culture oder Orientalismus-Debatten) dazu, das Augenmerk auf Europa zu richten. Erst zu diesem Zeitpunkt entstand das Bewusstsein, dass ein reflexiver Blick auf das „Eigene“ – etwa auf ‚den modernen Nationalstaat‘, ‚den Westen‘ oder ‚Europa‘ – unumgänglich ist, um die historisch entstandenen Machtgefälle zwischen Europa und anderen Regionen der Welt zu verstehen und kritisch zu hinterfragen, kurz: um „Europa zu provinzialisieren“ (D. Chakrabarty).
Das Seminar verfolgt zwei Ziele: Zum einen führt es in ethnologische Forschungen über das heutige EU-Europa ein. Es präsentiert Versuche, die EU als politisches, ökonomisches und kulturelles Gebilde zu begreifen und folgt Prozessen der Europäisierung, wie sie sich in unterschiedlichen lokalen Kontexten auswirken und wo sie auch über die geographischen Grenzen Europas hinausreichen. Europa wird entsprechend nicht als Region betrachtet, sondern als ein unabgeschlossenes und umkämpftes Projekt, das diverse geplante sowie unvorhersehbare Folgen nach sich zieht. Zum anderen werden Ansätze diskutiert, welche die analytische Dezentrierung Europas vorantreiben wollen und den methodologischen Eurozentrismus kritisieren.
Literaturempfehlung: Dipesh Chakrabarty (2008) “The Idea of Provoncializing Europe”, in: Ders. Provoncializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, pp. 3-26.
Studienleistung: Wird in der ersten Stunde bekannt gegeben
Modulleistung: Hausarbeit
