Besonderes Merkmal von Briefromanen ist, dass sich keine Erzählerinstanz zwischen die Stimmen der Figuren und den Leser schiebt. So kann der Brief im Roman als spontaner und unmittelbarer Ausdruck der Seele verstanden werden. Je nach Anzahl der Adressaten und ihrem Verhältnis zueinander steigt die Komplexität der Beziehungen und der Handlung, in der es keinen privilegierten, vermittelnden Standpunkt gibt. Was aber, wenn die Briefe der Figuren nicht von einem Wahrheitsanspruch durchdrungen sind, sondern durch die beabsichtigte Wirkung bestimmt werden? Indem sich der Anspruch auf Authentizität in sein Gegenteil verkehrt, erreicht die Gattung ihren Höhepunkt und mehr oder weniger ihr Ende.
In dem Seminar möchte ich die kurzen "Lettres portugaises" (1669) von Guilleragues, die noch keinen Roman darstellen, als Einstieg benutzen. Montesquieus "Lettres persanes" (1721) und Rousseaus Roman "Julie ou La nouvelle Héloïse" (1761) möchte ich mit Ihnen in Auszügen lesen, damit genug Zeit für Laclos' äußerst raffinierte "Liaisons dangereuses" (1782) bleibt.