Die Rede von der jüdischen Geschichte ist allgegenwärtig. Es ist jedoch fraglich, ob dieser neuzeitliche Begriff die Dynamik der jüdischen Traditionen abbilden kann. So sagte einmal der Kulturhistoriker Shlomo Pines: „Jeder Versuch, über 'jüdische Kultur' zu reden, welcher nicht auf dem Bewusstsein beruht, dass sie in Wahrheit eine multikulturelle Angelegenheit ist, muss letztendlich als Verfälschung historischer Tatsachen scheitern“. Tatsächlich schließt diese Position jegliche entwicklungsgeschichte Variante von der einen jüdischen Geschichte im Singular als unhistorisch aus. Man muss weltweit eine Vielzahl von relativ unabhängigen jüdischen Kulturen konstatieren, deren Herausbildung wesentlich durch ihre Beteiligung an lokalen kulturellen Zentren bedingt war. Dass es durchaus die Idee von dem einen jüdischen Volk gibt, ist eine Tatsache, welche eher dem jüdischen Bewusstsein angehört. Ziel der Vorlesung wird es sein, anhand ausgewählter Formen des jüdischen Denkens zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit zu verdeutliche, wie sich die extreme Vielgestaltigkeit der jüdischen Kulturen aus ihrem engen Kontakt mit regionalen Zentren kultureller Kreativität ergeben hat.
Literatur:
Biale, David (Hg.): Cultures of the Jews. A New History, 3 Bde., New York 2002
Brenner, Michael: Von einer jüdischen Geschichte zu vielen jüdischen Geschichten, in: Jüdische Geschichtsschreibung heute, München 2002, 17-35
Funkenstein, Amos: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt 1995
Myers, David N.: Einleitung, in: Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, hg. von Michael Brenner und David N. Myers, München 2002, 7-16